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An den Herbst '89 erinnere ich mich mittlerweile beinahe so verklärt, wie es viele 68er mit ihrer großen Zeit zu tun pflegen. Gerade 15 geworden, vermengten sich für mich pubertäres und gesellschaftliches anything goes zu einer so ganz aufrührenden Mischung ... heute würde ich sagen: es war wie ein großartiger Trip.

Dass ich mich auch 15 Jahre nach dem 9. November daran erinnern kann, dass dies ein Donnerstag war, verdanke ich meinem damals wohlgeordneten Leben. Donnerstags traf sich die Jugend unsere Gemeinde. In diesem Herbst waren diese Abende so gut besucht wie nie ... niemals vorher und niemals nachher. Im Herbst 89 wehte selbst durch die so zurückhaltende und auf Appeasement bedachte katholische Kirche der Berliner Disaspora ein Hauch von Revolution. Zahlreiche Gemeindegruppen boten sich als Rückzugs- und Artikulationsraum für unzählige Unzufriedene und direkt oder indirekt von Repressalien Betroffene an. Und ganz subtil und unbemerkt vielleicht sogar ungewollt wirkte sie in ihrer so typischen Schlafmützigkeit jener Radikalisierung entgegen, die jeder Unzufriedenheitsbewegung innezuwohnen scheint. Für die Friedlichkeit, mit der die Mauer schlussendlich zum Einsturz gebracht wurde, mögen unzählige Faktoren verantwortlich gewesen sein, die Kirchen hatten daran in jedem Fall einen erheblichen Anteil.

An jenem Donnerstagabend saß ich also mit zahlreichen anderen Jugendlichen in den Kellerräumen unseres Gemeindehauses und debattierte leidenschaftlich die aktuelle Situation in unserem Lande. Unser Leben in diesen Tagen war für DDR Verhältnisse ungewöhnlich politisiert. In der Schule, unter Freunden, in der Familie … immer fokussierten sich die Gespräche auf die Frage: Wie lange noch? Und dieses "Wie lange noch?" meinte nicht die Mauer und schon gar nicht die Deutsche Einheit ... nein, die Mauer hat sich in das Bewusstsein so vieler als Tatsache eingebrannt, dass daran zu rütteln in diesen Tagen noch als Windmühlenkampf verstanden wurde … zumal die Probleme im Inneren, die natürlich mittelbar auch mit der Mauer zu tun hatten, viel präsenter waren. Nein, die Frage war ... wie lange werden die SED-Bonzen das Heft des Handelns noch in der Hand behalten. Wann werden die gehen und wie. Dabei war die Frage nach dem „Wie“ die erregendste aller Fragen, die damals diskutiert wurden. Das die DDR-Führung abgewirtschaftet hatte war allen klar und auch viel zu offensichtlich. Doch keiner konnte sich vorstellen, dass diese Menschen freiwillig ihre Plätze räumen werden. Na ja, keiner der Beteiligten hatte ja so etwas wie Revolutionsroutine. Wie viel Druck musste also entstehen, wann bewegt sich etwas und ab wann wird der Druck so gefährlich groß, dass er nur noch in Form einer Explosion entweichen kann. Würden die da oben dabei tatenlos zusehen? Sicher nicht ... selten zuvor wurde soviel über China gesprochen ... die chinesische Lösung ... die Toten auf dem Platz des himmlischen Friedens ... wer im Herbst 89 über Demonstrationen sprach, musste auch diese Option im Hinterkopf behalten! Angst mischte sich in die aufgeregte Atmosphäre.

Nach stundenlangen Diskussionen ... also, wenn ich mir das recht überlege, glaube ich, es waren eher hitzige Gespräche, Erfahrungsberichte, Gossips, Schilderungen, was den "Großen" so passiert ist ... und in dieser Zeit kannte wohl jeder jemanden, der "zugeführt" wurde und eine Nacht in einem Stasiknast zugebracht hatte. Für Diskussion hätte es ja gegensätzliche Standpunkte gebraucht, die es in dieser Runde nicht wirklich gab, zu Groß waren die Übereinstimmungen – zu klein die Differenzen. Eine Situation, die nach diesem Tag so nie wiederkehren sollte! Nach langen und hitzigen Gesprächen also, verabredeten wir uns, am folgenden Freitag gemeinsam zu einen Friedensgebet in die Getsehmane Kirche - quasi dem Schmelztiegel des Aufbegehrens in Ostberlin - zu gehen.

Als ich dann so gegen halb elf nach Hause kam, war die Schabowski Pressekonferenz DAS Thema im Fernsehen ... es müssen - um diese Zeit - die Tagesthemen gewesen sein ... n-tv gab’s damals ja noch nicht und das heute journal muss schon vorbei gewesen sein. Ich mag mich irren, aber in den Nachrichtenzentralen schien man noch Probleme zu haben, die Tragweite der Ereignisse richtig einzuschätzen ... an Sondersendungen, Brennpunkte und ähnliches kann ich mich jedenfalls nicht erinnern.

Auch bei uns zu Hause entbrannten jetzt die Diskussionen, was das nun zu bedeuten hatte. Na klar, nach Ungarn, nach der Ausreise der Prager Botschaftsflüchtlinge musste ja etwas passieren. Und das einzig Vorstellbare, was dieser am Abend verkündete Beschluss bedeuten konnte, war für mich, dass all die, die ausreisen wollten - und zwar für immer, dass die das nun auch direkt an innerdeutschen Grenzübergängen tun könnten.

Ausreise ... wer bitte hatte damals diesen Gedanken nicht gedacht. Gerade fünfzehnjährig meinte ich, diesen Gedanke stets nur im Familienkontext denken zu können. Mich machte es schier irre, dass meine Mutter, in Regelmäßigkeit von den Geburtstagsbesuchen Ihres Onkels in Köln zurückkam. Nicht das wir etwas aufgebaut hätten, was zu verlassen Schmerzen größerer Dimensionen verursacht hätte ... nein, meine Großmutter in Ihrer Pflegebedürftigkeit war für meine Eltern und somit auch für mich der Anker im grauen realexistierenden Sozialismus. Das mein Bruder in diesem Sommer von einem Urlaub in Ungarn wiederkehrte, erschien mir wie ein Wunder und noch unverständlicher als die Rückkehr meiner Mutter.

Somit war das Thema dauerhafte Ausreise also ein theoretisches, mittelfristig für mich aber eher unrealistisches Szenario. Deshalb ging ich an diesem 9. November auch recht bald zu Bett, unvorstellbar heute, dass ich dies völlig ruhig und unaufgeregt tat. Und wenn ich tatsächlich vor halb zwölf eingeschlafen bin, dann muss ich nun eingestehen, dass ich die Maueröffnung schlicht und ergreifend verschlafen habe!

An nächsten Morgen, schien dann auch die Medienwelt kapiert zu haben, was da geschehen ist. Sondersendungen im Radio und Fernsehen berichteten von diesem unvorstellbaren ja undenkbaren Ereignis, berichteten von Trabikolonnen an den Grenzübergangsstellen und von wildfremden Menschen, die sich sekttrunken in den Armen lagen.... WAAAHHHHNSINNN .... war, wenn ich mich richtig erinnere, das häufigste Wort, das an diesem Tag über den Äther ging, gern auch in der seitdem für Ostdeutschland so klischeebildenden sächsischen Lautmalerei. Und was tat ich? Ich stapfte erst mal brav in die Schule. Ich war früh morgens noch nie so besonders gut darin, Entscheidungen zu treffen und ich glaube, mich auch daran erinnern zu können, dass meine Eltern, die damals noch sehr maßgeblich bestimmten, was ich zu tun und zu lassen hätte, mir sehr bestimmt ans Herz legten nicht sofort und nicht ohne sie „rüber“ zu fahren.

Nun ja, am frühen Nachmittag fanden wir uns alle drei (wo mein Bruder in der ganzen Zeit war, daran kann ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern) in unserer Wohnung ein, um dann anschließend gen Ku'damm zu ziehen. Warum meine Eltern schon um diese Zeit zu Hause waren, wie wir uns verständigten ohne Handy, ich weiß es nicht mehr ... aber irgendwie hat’s funktioniert und schon saßen wir in der S-Bahn Richtung Friedrichstraße. Irgendwie haben meine Eltern, glaube ich, auch noch die notwendigen Stempel bei der Meldestelle besorgt, ohne die man angeblich nicht wieder hätte zurück gekonnt, dies war dann vermutlich auch der Grund, warum wir erst am Nachmittag aufbrachen … aber mussten die denn gar nicht arbeiten … egal ... hier liegt bereits der Mantel von 15 Jahren drüber und die Erinnerung an diese Details wird von Jahr zu Jahr schemenhafter. Am Bahnhof Friedrichstraße angekommen, der damals noch Endbahnhof und gänzlich ohne Geschäfte (was hätte man da auch ... naja ...) quasi am Stadtrand lag, trafen wir auf Unmengen „Gleichgesinnter“ ... was jetzt auch nicht so sonderlich überraschend war. Die ganze Veranstaltung hatte über Nacht und in den Vormittagsstunden bereits erste Züge von Normalität angenommen. Die ersten Menschen kamen unbeschadet wieder zurück und überall setzte sich die Auffassung durch, dass die das Ding nicht mehr so schnell zurückdrehen könnten. WOOOHHHHNNNNNSIIIIIINNNNN plapperte es unentwegt um mich herum. Und Menschenschlangen ungekannten Ausmaßes (was im Osten schon was bedeutet) bildeten sich überall dort, wo es die Chance gab in den Westen zu kommen.

Dem Deutschen an sich wohnt ja eine gewisse Obrigkeitshörigkeit inne. Dem Ostdeutsche ja ohnehin. Und hier vermengte sich dieser Wesenszug mit dem seit Jahrzehnten konditionierten Drang, sich überall dort, wo sich eine Schlange bildet, auch anzustellen. In der Regel erfuhr man erst ganz zum Schluss, was es da eigentlich gab, was ja auch egal war, denn alles, was eine Schlange verursachte, war begehrt, wenn nicht für den Eigenbedarf dann doch als Tauschmittel für, Baumaterial, Handwerker, Werkstatttermine, Ersatzteile, Kaffee, Westschokolade ... ach nee, letzteres war ja an sich schon eine harte Währung. In diesem besonderen Falle wusste man allerdings schon von vornherein, was einen da erwartet ... die S-Bahn nach Westberlin! Die Menschenschlange wand sich also vom Tränenpalast, der schon damals so genannt wurde, schön ordentlich am Bahnhofsgebäude entlang, unter der Brücke durch in Richtung „Unter den Linden“. Es hätte Stunden gedauert. Man könnte meinen, darauf wäre es ja nun auch nicht mehr angekommen … hatte man doch „40 Jahre darauf gewartet“ um mal zur Abwechslung eine weiterer sehr beliebte rhetorische Figur dieser Tage einzuführen. Doch dann leistet sich mein Vater eine Aktion, mit der er mich so sehr wie nie zuvor und nie wieder später zu beeindrucken verstand. Mein Vater, den ich als Mann des angepassten „Einerseits-Andererseits“, das personifizierte Nicht-anecken-Wollen, dessen Kopf schon rein physisch zwischen seinen Schultern zu versinken drohte, der marschierte plötzlich an all den Wartenden vorbei und sagte irgendwas wie "Da muss es doch noch einen anderen Eingang geben!" Wir hatten Mühe ihm zu folgen, so entschlossenen Schrittes zog er von dannen. Und just, als wir vorn am Eingang ankamen, wurde tatsächlich ein zweiter Durchgang geöffnet und wir marschierten da quasi gänzlich ohne Wartezeit in Richtung West-S-Bahn. Irgendwie hätten wir ja Blumen oder ähnliches bekommen müssen ... so als Erstpassanten?!

Mir war noch etwas schleierhaft, warum meine Eltern nun unbedingt zum Zoo wollten. Ich meine, ich konnte mir an diesem Tag wirklich vieles vorstellen, aber beim besten Willen - Tiere im Zoo hätte ich mir nun echt nicht ansehen mögen. Wir wohnten damals am Tierpark, dem Zoo von Ostberlin und wie selbstverständlich transferierte ich die dortige Tristesse in meiner Vorstellung auch auf den Zoo. Und wenn es etwas gab, was im Osten wie im Weste gleich war, dann waren es doch wohl Elefanten, Giraffen und Affen!

Am Zoo angekommen, war ich nun wirklich beeindruckt. Das war ja gar keine idyllisch grüne Stadtrandlage - das war das Herz der Stadt und der Ku'damm war auch gleich um die Ecke. In regelmäßigen Abständen purzelte mir ein gepflegtes WAAAAHHHHHNNNNNSIIIINNNNN aus dem Mund meistens abwechselnd mit einem beeindruckten "Kuck mal!" welches an meine Eltern gerichtet war, die natürlich ganz woanders hinsahen, aber passend mit "WAAAAHHHHHNNNNSIIIIIINNNNN!" antworteten. Merkwürdigerweise war es nicht die Buntheit, die mich so beeindruckte.... es war vielmehr die Tatsache, dass hier alles deutsch geschrieben wurde und die Menschen um mich herum in meiner Sprache sprachen. Ich befand mich nach zwanzig Minuten S-Bahnfahrt in einer so was von anderen Welt, das es in meiner Vorstellung eigentlich hätte ein anderer Planet sein müssen ... mindestens jedoch ein anderer Kontinent und da hat man gefälligst eine andere Sprache zu schreiben und zu sprechen.

Mit einem Verweis auf mein pubertäre Naivität und die taumelnde Irrationalität der ganzen Ereignisse kann ich hier dann auch einmal zum Besten geben, wofür ich mein erstes Westgeld in Westberlin ausgegeben habe: Eine Bildzeitung, die an diesem Tag überwiegend in Schwarz-Rot-Gelb aufgemacht war und mittlere Pommes bei McDonald’s .... ähmmm... ja … so war das!

Der 9. November scheint ja tatsächlich ein Schicksalsdatum für die Deutschen zu sein. Ich kann nur spekulieren, was ich 1918, 1923 oder 1938 gemacht hätte. Ich vermute, keines dieser Daten hätte mir ein so glückseliges "WAAAAHHHNNNSIIINNN" entlockt. So gibt dieses Datum doch ausreichend Grund innezuhalten. Wenn es einen nationalen Gedenktag gibt, dann ist das doch wohl dieser 9. November. An keinem Tag wird die Zwiespältigkeit dieser Nation so offenbar wie heute. Wenn da mal nicht ein ganz perfider Plan der Herren im Politbüro hinter steckt. "Wenn wir abtreten, dann doch bitte an einem Tag, der alle deutschtümelnde Siegermetaphorik bereits im Keim erstickt! < pathos-tag aus>

WAAAAHHHHNNNNSIINNNN!
guanako meinte am 12. Nov, 02:33:
wie wäre es also mit dem ableben der bundesrepublik zum 9. nov. 2006? zum 1.1.2007 steht dann eh die eu-verfassung bereit, damit die wilden innereinen heutiger deutscher unkultur (korruption, hartz usw.) mit militärischen mitteln der konfrontation geklärt werden können...

ich bin nur mal gespannt, wohin wir alle rasen - der bleifuss ist ja mittlerweile ziemlich unverkennbar geworden! 
dangerfunker antwortete am 12. Nov, 08:26:
Nee, nee ... man darf dabei ja nicht vergessen, dass "wir" 2006 Weltmeister werden ... da ist dann nix mehr mit ableben lassen. Zumindest ist das wahrscheinlicher als eine EU weite Ratifizierung der Verfassung bis zum 31.12.2006!!